28. Mai 2018 – 1. Juli 2018:
Als wir die schwedische Grenze überquerten, war die Vorfreude auf den geplanten Monat in Schweden riesig. Kurz nach der Grenze machten wir in Schweden vom «Jedermannsrecht» Gebrauch und stellten unsere Zelte wenige Meter von der Hauptstrasse entfernt in den Wald. Zur Sicherheit hängten wir das Essen hoch in die Bäume, um keine Bären anzulocken – nötig wäre dies wohl nicht gewesen, wie wir in den kommenden Tagen von Einheimischen erfuhren.
Die schönen, fast unbefahrenen Strassen durch die endlosen Kiefernwälder Schwedens gefielen uns ausserordentlich. Leider blieb uns der Kontakt mit Einheimischen zu Beginn mehrheitlich verwehrt. Die einzigen Gespräche hatten wir beim Wasser holen, wenn wir bei bewohnten Häusern anklopften und nach Trinkwasser fragten.
Einmal klopften wir an mehrere Türen und niemand war zuhause oder die Türe wurde aus ungewissen Gründen nicht geöffnet. Bei einem Haus klingelten wir mehrmals, da wir vorher beobachteten, wie eine ältere Frau ihr Haus betrat. Diese hatte offensichtlich Angst, uns die Tür zu öffnen und wiederspiegelte somit die zurückgezogenen Nordschweden.
Obwohl viele ältere Einwohner Nordschwedens nicht gut Englisch sprechen, waren die Bekanntschaften immer sehr sympathisch. An einem warmen und sonnigen Nachmittag stoppten wir unsere Räder an einem grösseren Anwesen und hielten nach den Besitzern Ausschau. Unsere Rufe und das Klingeln erweckte nur die Aufmerksamkeit eines grossen Schäferhundes, der laut bellend auf uns zu rannte. Uns war die Situation nicht so angenehm und wir wollten das Grundstück bereits wieder verlassen, als plötzlich ein splitternackter, älterer Mann aus seiner kleinen, selbstgebauten Sauna hinausguckte. Er winkte uns zu, zog sich langsam seine eng anliegenden Unterhosen an und näherte sich uns gemächlich. Nur mit seiner Unterhose bekleidet füllte er unsere Wasserflaschen in seinem Haus, bevor er sich wieder langsam auszog und in der Sauna verschwand.
Kurz nach der Durchfahrt von Gällivare, der selbsternannten Minenhauptstadt Europas, ereignete sich der erste (und hoffentlich letzte) Sturz unserer Reise. Schon etwas müde vom anstrengenden Tag im Sattel, fuhren wir auf der Hauptstrasse E45 nebeneinander durch wunderschöne Landschaften Nordschwedens. Unglücklicherweise hängte Joel mit seinem Lenker an Fabians Gepäck ein und konnte das Fahrrad nicht mehr halten. Der Sturz ging aber zum Glück für alle glimpflich aus. Joel trug ein paar Schürfwunden, kaputte Schuhe und ein löchriges Shirt davon. Fabian – wie könnte es auch anders sein – hatte einen Speichenbruch zu beklagen.
Einigen Kilometern nach Jokkmokk sahen wir ein grosses Schild, gespickt mit unzähligen Klebern, welches den nördlichen Polarkreis signalisierte. Somit überquerten wir den Breitengrad, an dem die Sonne an Tagen der Sonnenwende nicht mehr untergeht.
Lange Zeit fuhren wir auf der Hauptstrasse E45, welche sich durch die wunderschönen Wälder und Seen Nordschwedens zog. Mit unserer Navigations-App planten wir beim Frühstück wie gewohnt den kommenden Tag. Wenige Kilometer führte uns die Route einer Asphaltstrasse entlang. Nach kurzer Zeit jedoch änderte der Belag auf gut befahrbaren Kies. Je weiter wir fuhren, desto schlechter wurde der Zustand der Strasse. Nach ca. 10 Kilometer endete die Strasse und wir standen vor einer Sackgasse. Nach Prüfung der Karte stellten wir fest, dass uns das Navi einer Schneemobilstrecke entlangführte. Nach kurzer Diskussion entschieden wir uns, das Abenteuer in Angriff zu nehmen. Meter für Meter kämpften wir uns durch den Pfad über Steine, Äste und Moor. Völlig durchnässt und erschöpft erreichten wir nach ungefähr 3 km das Ende des Pfades. Als wäre dies nicht genug gewesen, mussten wir noch einige Kilometer auf einer Schotterstrasse fahren. Als wir endlich wieder auf die Hauptstrasse abzweigten, entschieden wir uns, bei der nächsten Gelegenheit unsere Zelte aufzuschlagen. Dies taten wir – wie so oft in Schweden – an einem wunderschönen Ort mit Feuerstelle und Unterstand.
Nach einer ziemlich windigen Nacht hatten wir morgens Mühe, um in die Gänge zu kommen. Dies änderte sich jedoch nach einer Stärkung in Form von 1.5 Liter Pepsi, 3 Energy Drinks und 6 Süssgebäcken. Nach einigen Kilometern fiel uns sofort ein grosses, totes Tier am Strassenrand auf. Zuerst tippten wir auf ein Rentier. Uns wurde jedoch ziemlich rasch klar, dass es sich aufgrund der Grösse um einen jungen Elch handeln musste. Der anwesende Wildhüter erklärte uns, dass das 2-jährige Tier am frühen Morgen von einem Auto angefahren wurde und bei der Kollision tödlich verletzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hofften wir noch immer, irgendwann auf einen lebendigen Elch zu stossen. Leider blieb uns dies jedoch bis am Schluss verwehrt.
Unsere Theorie wieso wir keine Elche zu Gesicht bekommen hatten ist folgende: Elche gehen nicht, nein, sie fliegen! Aus diesem Grund haben wir die ganze Zeit am falschen Ort Ausschau nach den grossen Säugetieren gehalten. Anstatt in die tiefen, dunklen Wälder zu schauen, wären die Baumwipfel bzw. der Himmel eigentlich der Ort des Geschehens. Denn im Frühjahr legen die weiblichen Tiere ihre riesigen Eier in die Baumkronen und im Herbst schlüpfen die Jungtiere und entdecken die Welt aus der Luft. Soweit unsere Erklärung für die Abwesenheit der Elche. Die Einheimischen meinten, es sei wegen des harten Winters. Somit hätten die Tiere keine Energie sich weitläufig zu bewegen und aus diesem Grund ist die Chance sie zu sehen kleiner.
Bald erreichten wir Lycksele, der bisher modernsten Stadt auf unserer Reise, und legten eine Mittagspause ein. Ein gesprächiger Einheimischer sprach uns an und kaufte uns nach einigen Minuten im Sportladen nebenan ein Ventil damit wir die Räder in Zukunft bei Tankstellen pumpen zu können. Der von unserer Reise begeisterte Mitarbeiter im Sportladen gab uns den Standort einer lokalen Bäckerei an. Ein ausgewanderter Schweizer hatte diese vor 60 Jahren eröffnet. Der stolze Bäckermeister erzählte uns von seinem Leben in Schweden und wir verpflegten uns währenddessen mit leckeren Gebäcken. Auf der Weiterfahrt, welche uns einen kleinen Pass heraufführte, sahen wir schon von weit her einen Lastwagen, welcher am Strassenrand stand. Als wir näher herankamen, bemerkten wir, dass der Lastwagenchauffeur ein Ölfass verloren hatte. Verzweifelt versuchte er, dass ungefähr 200kg schwere Fass wieder auf den Lastwagen zu bringen. Alleine hatte er natürlich keine Chance. Also beschlossen wir, dem Fahrer zu helfen und bugsierten das verbeulte Fass zurück auf die Ladefläche. Er wusste die Hilfe zu schätzen und bedankte sich mit seinen wenigen Englischkenntnissen bei uns.
Vor Sundsvall, der bisher grössten Stadt, stiegen die Temperaturen deutlich an und wir genossen den schwedischen Frühling. Nach 12 Tagen ununterbrochen im Sattel waren wir richtig froh, die Hafenstadt zu erreichen. Wir beschlossen, einen wohlverdienten Pausentag einzulegen und trafen uns mit Colin und Patrick, zwei Freunde aus unserem Heimatdorf Buchrain, die mit einem Camper Ferien in Skandinavien machten. Zum ersten Mal seit Beginn der Reise gönnten wir uns auf dem Campingplatz ein Stück Fleisch und feierten das Treffen mit einigen kühlen Bieren. Der Pausentag stand Voll und Ganz im Zeichen der körperlichen Erholung und wir aktualisierten den Blog. Erholt fuhren wir nach dem Tag Pause bei strahlendem Sonnenschein wieder los Richtung Süden. Wir versuchten die viel befahrene Strasse E4, welche sich der Küste entlang zieht, zu vermeiden. Dies gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht und wir fuhren zum Teil schwer befahrbaren Kiesstrassen entlang.
Nach über drei Wochen auf der Tour erlebten wir den ersten Tag mit Dauerregen, aber über das Wetter beklagen konnten wir uns definitiv nicht. Für nordische Verhältnisse hatten wir im Grossen und Ganzen riesiges Glück. An diesem Tag machten wir die ersten unangenehmen Bekanntschaften mit den gefürchteten schwedischen Moskitos. Die riesigen Stechmücken gestalteten das Leben in der Natur bei der Dämmerung als richtige Tortur. Schnelles Handeln war gefragt und wir entschieden uns, nur ein Zelt aufzustellen. In Rekordzeit, geschützt mit langen Kleidern, Mützen und Handschuhen, stellten wir das Zelt in eingespieltem Teamwork auf. Den Moskitos gelang es trotzdem uns an den wenigen freiliegenden Hautstellen zu stechen. Im Schutz des sicheren Zeltes überlegte man sich dann zweimal, ob die Blase wirklich schon voll ist.
Der letzte Zwischenstopp vor Stockholm war Uppsala. Die Grossstadt erreichten wir nach fast 140 Kilometer auf dem Fahrrad, ein neuer Rekord. Für die Besichtigung der Universitätsstadt gönnten wir uns einen Tag Pause. Nach knapp 80 von Gegenwind und mühsamen Fahrradwegen geprägten Kilometern, erreichten wir Stockholm. Leider konnten wir die Fahrräder nicht ins Hostel hineinnehmen. Der Besitzer der Unterkunft versicherte uns, dass es eine ruhige Gegend sei und wir uns keine Sorgen um die Fahrräder machen müssen. Wir glaubten dem Besitzer – diese Entscheidung bereuten wir später.
Am ersten Tag in Stockholm besuchten wir bei strahlendem Sonnenschein das Stadtzentrum. Wir kämpften uns durch die Touristenströme und begutachteten die wunderschöne Altstadt. Am Nachmittag besichtigten wir das Vasa-Museum, in welchem es ein altes Kriegsschiff aus dem 17. Jahrhundert zu bestaunen gibt. Müde kamen wir abends im Hostel an und machten Bekanntschaft mit einem deutschen Tourenfahrer, welcher in Richtung Norden unterwegs war.
«Hey Jungs, ich weiss nicht wie ich es euch sagen soll…», mit diesen Worten weckte uns der deutsche Fahrradfahrer am nächsten Morgen. Dies sollte nichts Gutes verheissen. «Zwei von euren Fahrrädern sind nicht mehr da». Niedergeschlagen machten wir uns auf den Weg, um uns das Ganze anzusehen. Tatsächlich waren Fabians und Adrians Fahrräder nicht mehr da. Die zwei Schlösser wurden mit einem Seitenschneider durchgetrennt. Joels Fahrrad wurde vermutlich nicht entwendet, da er ein zusätzliches Hinterradschloss hatte.
Was für ein Start in den Tag! Beim Frühstück besprachen wir das weitere Vorgehen und kontaktierten unsere Versicherung, unseren Fahrradhändler aus der Schweiz und weitere relevante Parteien. Statt weitere Stadtbesichtigungen zu unternehmen stand nun also Fahrradkauf auf dem Programm, damit wir die Reise möglichst bald fortsetzen können. Der Händler im ersten Shop zeigte sich gar nicht erstaunt über die geklauten Räder. Dies ist hier in Stockholm wohl so ziemlich normal. Nach einigen Abklärungen musste uns der Verkäufer mitteilen, dass er auf die Schnelle leider keine geeigneten Fahrräder auftreiben kann. Im nächsten Shop wurden wir dann fündig. Der etwas übereifrige Verkäufer stellte uns ein etwas sportlicheres Reiserad vor. Nach einigen Nachfragen und Abklärungen entschieden wir uns, dass Fahrrad zu reservieren und eine Nacht darüber nachzudenken.
Um uns etwas von dem Schock abzulenken, meldeten wir uns für eine Bartour mit anderen Reisenden an. Bei reichlich Bier hatten wir interessante Gespräche, schlossen neue Bekanntschaften und konnten den Frust des Verlustes runterspülen. Nach grosszügigem Ausschlafen, um die «Pub Crawl» zu verdauen, machten wir uns auf den Weg zum Fahrradladen, wo wir unsere zwei neuen Räder bis um 14 Uhr reserviert hatten. Im Laden erzählte uns der kompetente Verkäufer, dass der Mitarbeiter der uns gestern bedient hatte, falsche Informationen gegeben hatte und wir die Fahrräder frühestens am Montag entgegennehmen können. Enttäuscht und überrumpelt von dieser neuen Situation fragten wir, ob es eine Alternative gäbe im aktuellen Sortiment des grossen Ladens. Nach einiger Diskussion fanden wir ein ähnliches Fahrrad, welches sogar noch besser geeignet war, da wir das höhere Maximalgewicht auf dessen Gepäckträger laden konnten. In einem anderen Laden am anderen Ende der Stadt gab es nochmal dasselbe Fahrrad mit der richtigen Grösse und wir organisierten, dass die Mechaniker uns das Fahrrad bis am Montagmittag vorbereiteten. Die neuen Fahrräder von Trek mussten noch mit Schutzblechen, Flaschenhaltern, Gepäckträgern und neuen Pedalen ausgestattet werden. Zusätzlich kauften wir uns ein neues sehr robustes Schloss, Glocken und neue Taschenhalterungen für die Lenkertaschen.
Im Fahrradladen angekommen, traf uns der nächste Schock! Die Kreditkarte, welche wir über unsere Bank bezogen hatten, hatte ein Kartenlimit von 3000 CHF. Da wir zwei Fahrräder kaufen mussten und schon einiges an Geld bereits im laufenden Monat gebraucht hatten, reichte der übrige Betrag nicht mal annährend. Die Maestro Karten schienen auch nicht zu funktionieren und so hatten wir keine Möglichkeit die Rechnung zu bezahlen. Nach mehreren Telefonaten mit der Viseca-Hotline und der Raiffeisenbank selber, wurde uns erklärt, dass dies nicht so einfach ginge – es sei ja schliesslich kein Notfall. Völlig frustriert warteten wir mehrere Stunden im Fahrradgeschäft auf einen Rückruf der uns bestätigte, dass wir auf unser Geld per Kreditkarte Zugriff erhalten würden. Viele Stunden und einige hilflose Telefonate später, wurde die Kartenlimite erhöht und wir konnten unsere zwei neuen Fahrräder an den zwei verschiedenen Standorten bezahlen und abholen. Glücklich über die Neuanschaffung fuhren wir direkt zurück zur Unterkunft, um die neuen Fahrräder im Stadtverkehr zu testen. Aufgrund der Verzögerung durch den Diebstahl und der Kartenlimite, lohnte es sich nicht mehr am selben Tag Stockholm zu verlassen und wir buchten eine weitere Nacht.
Als stolze Besitzer von neuen Fahrrädern machten wir uns auf den Weg Richtung Linköping. In der Universitäts- und Industriestadt trafen wir uns mit David, einem Schweden, welchen wir auf Couchsurfing kennengelernt haben. Er führte uns durch die zum Teil 250 Jahre alte Innenstadt. Nach diesem Zwischenstopp machten wir uns auf den Weg Richtung Jönköping. Die Route führte uns durch die wunderschönen Landschaften Südschwedens. Dabei streiften wir den Vättersee. Der See ist der zweitgrösste im Land und in etwa so gross wie der Kanton Zürich. An unserem Pausentag in Jönköping besichtigen wir die Innenstadt und schauten uns das zweite WM-Gruppenspiel der Schweden gegen Deutschland in einem Public-Viewing an.
Nach dem wenig bewohnten Norden Schwedens wies der Süden einen komplett anderen Charakter auf. Auf dem Weg von Jönköping nach Göteborg fuhren wir durch die uns unbekannte Grossstadt Borås, welche eine nette Innenstadt hat. In der wunderschönen Stadt Göteborg trafen wir uns ein zweites Mal mit Colin und Patrick und erkundeten die Stadt zusammen. Nach dem Fahrradklau hatten wir keine Brookssättel mehr und waren mit einem Standartsattel unterwegs. Da leider kein Brooks Ledersattel verfügbar war, haben wir es mit einem solchen Sattel versucht. Bereits am ersten Tag haben wir jedoch gemerkt, dass dies auf Dauer keine Lösung ist. Nach einigen schmerzhaften Tagen im Sattel haben wir nun in Göteborg endlich einen Brooks-Sattel gefunden und freuten uns somit wieder auf eine angenehme Weiterfahrt Richtung Süden.
Über drei Wochen waren wir bei der Abfahrt in Göteborg bereits in Schweden unterwegs. Wir konnten uns glücklich schätzen, denn wettertechnisch erwischten wir einen Rekordsommer mit wenig Niederschlag, Sonnenstunden ohne Ende und fast keinen Moskitos. Stets führten uns die Strassen durch schöne Wald- und Seelandschaften. Nach so langer Zeit waren wir jedoch froh, dass sich dies nun änderte. Bei schönstem Wetter führte uns die Strecke entlang wunderschönen Küstenlandschaften. Auf dem Weg von Göteborg bis nach Helsinborg nutzten wir diese Gelegenheit, campten direkt am Sandstrand und erfrischten uns am Mittag und Abend im angenehm, kühlen Meer. Obwohl geplant war, bis nach Malmö zu fahren, um von dort den Zug nach Kopenhagen zu nehmen, entschieden wir uns kurzfristig dagegen. Aufgrund von diversen Tipps beschlossen wir uns bereits von Helsingborg das Land nach Dänemark mit der Fähre zu verlassen. Da wir Malmö jedoch auch noch sehen wollten, machten wir von Kopenhagen einen Tagausflug nach Malmö.
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